Aktenzeichen XY

Wie wir auf Menschen blicken, ist oft eine selbsterfüllende Prophezeiung. Unser Gehirn filtert nämlich vor, welche Ereignisse uns auffallen, je nachdem, worauf wir uns „eingeschossen“ haben (der gute Barnum-Effekt).

Beobachtet eine Überwachungskamera das Verhalten meiner Dreijährigen, sieht sie z.B. Folgendes:

Sie sammelt Stöcke im Gebüsch und verteilt sie auf dem Rasen.

Sie tunkt ein Spülhandtuch ins Wasserglas und verteilt das Wasser auf dem Esstisch.

„Die treibt immer Schabernack“, sage ich mir – höchstwahrscheinlich geprägt durch eine Kindheit, in der Aktivitäten in vernünftige und unvernünftige Kategorien eingeteilt waren.

„Die Stöcke gehören da nicht hin, du machst damit den Rasenmäher kaputt!“, sage ich ihr.

„Aber ich habe mit den Stöcken ein schönes Muster gemacht“, empört sich die Tochter.

„Du machst mit deinem Quatsch nur noch mehr Arbeit. Räum sofort wieder auf, wenn du weiter im Garten spielen willst!“, sagt der Mund.

„Du bist gemein!“, brüllt die Tochter – war ja klar, dass sie sich gegen das Aufräumen wehrt.

Wir sind mitten in einer Abwärtsspirale, angetrieben von dem, was in der Managementtheorie vom MIT-Professor Douglas McGregor als das „Theory X“-Menschenbild benannt wurde.

Die Annahme ist, dass Menschen ohne Tritt in den Allerwertesten Nichtsnutze sind, und erst durch Abmahnung oder Belohnung Sinnvolles leisten. Und dass man gut daran tut, häufig nach dem Rechten zu sehen, weil sonst Regeln heimlich umschifft werden.

Es ist egal, was die imaginäre Kamera aufgezeichnet hat.

Denn in meinem Empfinden, in meiner Interpretation liegt die für mich geltende Wahrheit. Und so bestätigt sich mein Menschenbild.

Die Sache ist nur, es macht mich unglücklich. Denn eigentlich hat meine Tochter sich hauptsächlich gegen mich gewehrt.

Und noch schlimmer: Ich weiß bestens, wie es sich anfühlt, vollkommen überkontrolliert und unterschätzt zu werden. Ich habe es z.B. gehasst, unter einem autoritären Chef zu arbeiten, der bei jeder Email über meine Schulter geschaut hat und sogar eine obligatorische Toilettenbesucher-Liste eingeführt hat, um Schmutzfinken auf die Schliche zu kommen – unter Androhung von Kündigung (ja, das ist wirklich passiert. In Deutschland, in diesem Jahrhundert).

Wie komme ich da raus?

Nehmen wir an, die Stöcke-Aktion wäre an einem besseren Tag passiert. An einem Tag, an dem ich reflektierter bin, also eher bereit bin, die Perspektive des wertungsfreien Beobachters einzunehmen.

Ich kann ihr nicht in den Kopf gucken, also würde ich fragen.

„Du hast ja ganz schön viele Stöcke gesammelt! Zeigst du mir mal, was du machst?“

„Mama, ich habe unter dem Gebüsch aufgeräumt. Und hier habe ich mit den Stöcken ein Muster gemacht. Praktisch, oder?“

Dass wir den Rest des Nachmittages viel konstruktiver verbringen würden, liegt auf der Hand. Sicherlich würden wir einen geeigneteren Ort finden für das Kunstwerk, da ich weiterhin keine Stöcke im Rasenmäher haben will, und sich unser gemieteter Rasen so schlecht bei Sotheby’s versteigern lässt.

Von modernen Führungskräften erhofft man sich ein Menschenbild, das wesentlich wohlwollender ist als Theory X. Eben weil in Freiheit und Vertrauen mehr Kreativität und Kooperation entsteht. Auch hier bestätigt sich das Menschenbild von selbst und folgt nun der sogenannten – Überraschung – Theory Y:

Menschen wollen kreativ sein.

Sie wollen verantwortlich sein.

Sie wollen zu einem Sinn beitragen.

Sie wollen das genießen, was sie tun.

Das, was ich mir von Führungskräften und KollegInnen wünsche, will ich natürlich meinen Töchtern nicht vorenthalten. Frei nach Christian Hanne im Buch „Dad you can“, kann man das zusammenfassen unter „sei kein Arschloch“.

Im Übrigen hatte die Dreijährige mit ihrer Tisch-unter-Wasser-Aktion beim Putzen helfen wollen.

Wenn sie jetzt noch dosieren lernt, kann ich bald vielfältig von Kinderarbeit profitieren.

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