Am Ende des Tages ist oft der Wurm drin. Die ältere Tochter kann doch eigentlich schon längst selbst auf Toilette gehen. Und während ich in Ruhe ein leckeres Essen zubereiten will, klebt die jüngere an meinem Bein und will am liebsten nur noch als ein Körperteil von mir existieren.
In Anlehnung an den wunderbaren Blog gewünschtestes Wunschkind und den Kindheitsforscher Herbert Renz-Polster stelle ich mir vor, unsere Kinder hätten verschiedene Tanks für verschiedene Bedürfnisse.
Heute im Fokus: der Aufmerksamkeitstank und der Autonomietank.
Der Aufmerksamkeitstank wird gefüllt mit Zärtlichkeiten, Spielen, dem echten Gesehenwerden, Trost und Zuspruch, dem gemeinsamen Durchstehen und konstruktiven „Überleben“ anstrengender Gefühle als gemeinsam erlebte Zeit.
Er wird nach und nach von alleine leer durch Ermüdung, durch Frust und Verletzung. Beschleunigen kann man dies mit jedem „warte mal kurz“, jedem „beeil dich, wir müssen jetzt [für mich wichtige Tätigkeit] machen“, oder beliebigen anderen Aufforderungen zur Kooperation mit dem Erwachsenenleben.
*Eine Familie von Verbrauchern gibt es, von der ich mich ganz klar abgrenze, die im Folgenden auch niemals mitgemeint sein wird: Strafen und Entmündigung, Machtmissbrauch, Verletzungen der Würde und Aufdrängen von Nähe zur reinen Befriedigung elterlicher Gefühle.
Dem Zwischenruf „aber das Kind muss doch lernen…“ möchte ich an dieser Stelle zuvorkommen: Ja! Vollkommen richtig. Das Kind ist Teil eines Systems, das sich nicht nur um das Kind dreht und an vielen anderen Stellen funktionieren muss. Daher ist es normal und vorerst nicht verwerflich, dass es eben auch Elemente gibt, die den Aufmerksamkeitstank verbrauchen. Die Partei, die nach eigenen Aussagen Politik für Autos statt für Menschen macht, wird sich freuen, wenn ich eine PKW-Metapher verwende, immerhin gibt’s davon hierzulande mehr als Kinder: Den Wagen tankt man ja auch nicht voll, nur um sich bei jedem Liter Verbrauch mit einem schlechtem Gewissen zu plagen.
Als VerantwortungsträgerInnen unserer Familien liegt es aber an uns, zu erkennen, wann die Füllstandsanzeige sich langsam dem unteren Ende zuneigt. Hierfür müssen wir nicht unbedingt auf Ausfallerscheinungen unserer Kinder warten, es reicht manchmal auch sich selbst zu fragen, ob man es geschafft hat, die eine oder andere kleine Aufmerksamkeitsinsel fürs Kind einzubauen. Ein nettes Wort hier, ein wirkliches Beachten eines gemalten Bildes nach allen Regeln der Kunst, eine Umarmung oder ein verstohlener Blick der Verbündung, den man sich gegenseitig zuwirft.
Meist werden diese kleinen Gesten der Aufmerksamkeit zeitlich so stark überschätzt, dass man meint, man hätte gerade keine Zeit, sich den x-ten Regenbogen anzuschauen („zeig mal her – heute hast du ja einen komplett gelben Regenbogen gemalt!“ 10 Sekunden, die so viel bedeuten). Meine Meinung: Zumindest freundlich zu sein lohnt sich immer. Die Quittung am Tagesende kann dadurch möglicherweise gnädiger ausfallen, aber vor allem hat man vorgelebt, wie Wertschätzung auf eine alltägliche Art geht.
Ein dauerhaft ungefüllter Aufmerksamkeitstank bildet in meiner Vorstellung im Laufe der Jahre überspitzt die klaffende Leere in der erwachsenen Seele, die mit Likes, Konsumgütern oder mit protzigen Autos übertüncht wird.
Aber genug der Aufmerksamkeit. Was hat es mit dem anderen Tank auf sich?
Den Autonomietank könnte man in der Bedürfnispyramide von Maslow auch als Teil der Selbstverwirklichung verstehen. Er wird gefüllt mit den Erfolgsmomenten, in Eigenregie Dinge geschafft zu haben. Mit Momenten der ungestörten Konzentration im Flow, dem Probierendürfen und dem Stolz auf den Mut, den man selbst für etwas aufgebracht hat. Und wodurch wird er verbraucht? Durch ständiges Eingreifen, selbst wohlwollendes, um unangefragt beim Ausmalen zu helfen; durch das Bremsen von Forschungsdrang durch Micromanagement oder ständiger Ermahnung zur Vorsicht; durch nicht altersgemäße Regeln und Verbote, die das Kind künstlich klein halten.
*Nicht gemeint ist hier mit Autonomie übrigens das, was besonders in den Leistungsgesellschaften dieser Welt implizit verlangt wird: Dass das Bedürfnis nach Aufmerksamkeit verschwindet. Hierauf zielen zu frühe Schlafprogramme durch Schreienlassen, die Ratschläge gegen das Trösten aus Angst vor Verwöhnung, oder das Beharren darauf, dass man seinem müden Kind auf gar keinen Fall beim Ausziehen helfen wird, weil es das schon selber kann.
Auch hier ein Wort zu „Ja, aber..!“: Es ist mit Sicherheit unsere Aufgabe und Verantwortung, Gefahr für Leib und Leben zu unterbinden und auch echte Grenzen unserer Energie aufzuzeigen. Kein Forschungsdrang muss so stark gewährt werden, dass das Kind durch Selbsterfahrung lernt, dass Spültabs schlecht für den Magen sind. Und kein „sich selbst wickeln lassen“ ist so wichtig, dass es meine höchstpersönliche Abscheu vor Kaka-Graffiti an der Wand trumpft.
Doch sollten wir uns vor Augen halten, dass ein Sturz von 50cm in den Sand keine Gefahr für Leib und Leben darstellt – ebenso wenig wie ein verschüttetes Glas Wasser, ein Schnitt in den Finger mit einer runden Kinderschere oder ein auf links getragenes Kleidungsstück.
In der anderen Waagschale steht bei vollem Autonomietank so viel Positives, dass wir uns vielleicht in erträglichem Rahmen doch etwas Unbehagen zumuten müssen: Ein langfristig sichereres Gefühl für das eigene Können und die eigenen Grenzen, der Stolz auf eigene Errungenschaften und Selbstwirksamkeit. Das Vorenthalten und Vorwegnehmen dieser Erfolgsmomente, egal wie gut gemeint, kann hingegen im Laufe der alltäglichen Wiederholungen ein Gefühl von Ohnmacht und Unwirksamkeit zementieren, das sich aufs gesamte Erwachsenenleben auswirken kann, sicherlich auch aufs Führungsverhalten.
Und nun drei Offensichtlichkeiten:
- Die Größe der Tanks werden von Kind zu Kind und von Zeit zu Zeit variieren. Nichts Genaues weiß man nicht, aber wir haben dafür im Laufe der Zeit oft ein gutes Gespür.
- Aufmerksamkeit und Autonomie stehen in einem Spannungsfeld. Ich wage im Sinne Maslows zu behaupten: Je leerer der Aufmerksamkeitstank, desto weniger Kapazität für Autonomie. Doch bei vollem Aufmerksamkeitstank kann ein leerer Autonomietank sicherlich auch zu Frust, bestenfalls dann auch zu Frustentladungen führen. Und nach einer sehr konzentrierten me-Time zieht es einen wieder zurück zur Nähe.
- Alle Aussagen treffen auch auf Erwachsene zu. Während wir länger von einer Tankladung zehren können als Kinder, leiden auch unsere Leistung, Motivation und Beziehungen massiv darunter, wenn uns die „kleinen Wertschätzungen“ fehlen oder wir zu selten unserem gestalterischen Drang folgen können. Wenn ein Mitarbeiter unter Androhung von Kündigung nach einer Gehaltserhöhung schreit, haben wir mit der Wertschätzung wohl ziemlich geknausert, oder einfach keinen guten Riecher für die passende Art von Anerkennung gehabt.
Übrigens, zum Thema Nähebedürfnis weg-autonomisieren: Was für eine absurde Vorstellung in einer Liebesbeziehung.
„Schatz, ich bin so müde, machst du mir einen Tee?“ – „Nein, das kannst du doch schon selbst.“